Lesekreis „Türkische Literatur" Doğan Akhanlı: Sankofa

Einführung und Moderation: Detlef Rönfeldt (Sprecher des Lesekreises)

Im Rahmen unserer Lesereihe möchten wir uns diesmal mit dem Roman Sankofa von Doğan Akhanlı beschäftigen.

Der Sankofa ist ein sagenhafter Vogel, der in der Mythologie afrikanischer Völker eine wichtige Rolle spielt. Ganz entfernt erinnert er an Walter Benjamins berühmten "Engel der Geschichte", der mit dem Rücken voran in die Zukunft fliegt, aber den Blick fest auf die Zerstörungen der Vergangenheit richtet. Auch der Sankofa, richtet seinen Blick nach hinten, wenn er fliegt, und er gilt als Mahnung dafür, dass man die Vergangenheit nicht aus dem Blick verlieren darf, wenn man Gegenwart und Zukunft verstehen will. "Sankofa" ist auch der Titel des letzten, 2024 posthum in deutscher Übersetzung erschienenen Romans von Doğan Akhanlı, mit dem wir uns befassen wollen, wenn sich der Lesekreis Türkische Literatur am 18. Februar zum nächsten Mal trifft. Dazu möchten wir Sie herzlich einladen.

Auch in "Sankofa" geht es um den Blick "nach hinten": Es ist der Blick eines türkischen Offiziers, "der Oberleutnant" genannt, der mit der Armee und seiner Heimat gebrochen hat und seit langem in Köln im Exil lebt. Sein Schicksal ist eng verknüpft mit dem Schicksal eines Schriftstellers – Akhanlı nennt ihn "Tayfun Kara" –, der Anfang der achtziger Jahre für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat, zum Tode verurteilt wird. Nach sechs Jahren, sechs Monaten und sechs Tagen im Gefängnis gelingt es ihm, durch einen unterirdischen Tunnel zu entkommen und sich nach Deutschland abzusetzen. Der Oberleutnant, der auf ihn angesetzt war, hat damals im Haus des Geflüchteten neben Büchern und Zeitungen auch die Briefe konfisziert, die Kara im Gefängnis an seine Frau geschrieben hat, jeden Tag einen, insgesamt 2370. Es war die Lektüre dieser Briefe, die ihn dazu gebracht hat, sein Leben zu ändern und der Türkei den Rücken zu kehren.

Erst knapp dreißig Jahre später flammt sein Interesse an der alten Heimat wieder auf – ausgelöst durch Fragen seiner deutschen Ehefrau, die erstaunt registriert, wie wenig sie eigentlich von ihrem Mann weiß. Das Interesse erwachte "so schnell und schwindelerregend wie seine frühere Abnabelung", heißt es im Roman, und es ist der Blick des Oberleutnants in seine Vergangenheit, der dem Roman "Sankofa" Struktur und Richtung gibt.  

Doğan Akhanlı erzählt eine Geschichte von Macht, Gewalt, Willkür und staatlicher Repression vor dem Hintergrund der deutschen und türkischen Geschichte. Das Panorama, das er entwirft, reicht geographisch von Anatolien bis ins Rheinland und zeitlich von der türkischen Militärdiktatur der 1980er Jahre bis zum Beginn der Pandemie im Jahr 2020. Immer wieder tauchen historische Ereignisse auf – die Ermordung des Journalisten Hrant Dink, der NSU-Prozess, der Tod von George Floyd in den USA. Und es gelingt ihm, das alles so spannend zu erzählen, dass man dem Oberleutnant auf seiner Reise in die Vergangenheit atemlos folgt.

Doğan Akhanlı, 1957 im Nordosten der Türkei geboren und im Oktober 2021 in Berlin gestorben, hat,  beginnend mit der Trilogie "Kayıp Denizler" ("Verschwundene Meere"), die 1998/99 in der Türkei erschien, zahlreiche Romane und ein Theaterstück verfasst. Er wurde mit dem "Europäischen Toleranzpreis für Demokratie und Menschenrechte" ausgezeichnet und 2019 mit der Goethe-Medaille, die seit 1955 alljährlich vom Goethe-Institut verliehen wird und als offizieller Orden der Bundesrepublik Deutschland gilt. Sein Hauptthema war die Auseinandersetzung mit den Genoziden des 20. Jahrhunderts. In "Madonnas letzter Traum", 2019 auf Deutsch erschienen, schrieb er zum Beispiel eine Fortsetzung von Sabahattin Alis berühmter, im Berlin der dreißiger Jahre spielenden Liebesgeschichte "Madonna im Pelzmantel" und ging der Frage nach, ob die jüdische Heldin des Romans vielleicht eine reale Figur war und zu den fast 800 jüdischen Flüchtlingen gehörte, die 1942 im Schwarzen Meer sich selbst überlassen wurden und ertranken, nachdem ihr Schiff, die "Struma", von einem sowjetischen Torpedo versenkt worden war.

Vieles von dem, was Doğan Akhanlı in "Sankofa" beschreibt, hat er so oder ähnlich selbst erlebt. Er war vertraut mit Gewalt und staatlicher Willkür. Erstmals wurde er im Alter von 20 Jahren inhaftiert, weil er eine linke Zeitschrift gekauft hatte. Nach dem Militärputsch 1980 ging er in den Untergrund, wurde gefasst und saß zwei Jahre im Militärgefängnis von Istanbul. Nach seiner Flucht erhielt er 1991 in Deutschland politisches Asyl, woraufhin die Türkei ihn ausbürgerte. 2010 wurde Doğan Akhanlı bei einem Besuch in der Türkei erneut verhaftet und wegen eines angeblichen Raubüberfalls mit Totschlag angeklagt. Obwohl er freigesprochen wurde, wurde dieser Freispruch später aufgehoben, was 2017 zu einer weiteren Verhaftung im spanischen Granada führte. Dank intensiver Proteste, unter anderem von Bundeskanzlerin Angela Merkel, konnte er aber nach zwei Monaten nach Deutschland zurückkehren.

Wenn Sie Lust haben, am 18. Februar mit uns über Doğan Akhanlı und seinen letzten Roman zu diskutieren, melden Sie sich bitte an.


Die nächsten Bücher auf unserer Leseliste:

  • 18. März – Tezer Özlü: Suche nach den Spuren eines Selbstmords
  • 15. April – Zülfü Livaneli: Der Fischer und der Sohn
  • 20. Mai – Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau
  • 17. Juni – Nazım Hikmet: Die Romantiker
  • 16. September – Hakan Günday: Flucht
  • 21. Oktober – Perihan Mağden: Zwei Mädchen
  • 18. November – Aslı Erdoğan: Requiem für eine verlorene Stadt
  • 16. Dezember – Orhan Pamuk: Schnee

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