Trostbrücke 4, 2. Stock
Gesellschaftsraum
20457 Hamburg
Deutschland
Einführung und Moderation: Detlef Rönfeldt (Sprecher des Lesekreises)
Der Lesekreis "Türkische Literatur" wird sich am 17. Dezember zum letzten Mal in diesem Jahr treffen. Noch einmal wird unser Thema Nedim Gürsel sein, der 1951 im Südosten der Türkei geborene Autor, der heute in Frankreich lebt und arbeitet. Mit seinem eindrucksvollen Roman "Allahs Töchter" haben wir uns schon im April 2023 beschäftigt. Diesmal soll es um den 2014 im türkischen Original und 2017 in der deutschen Übersetzung von Barbara Yurtdaş erschienenen Roman "Der Sohn des Hauptmanns" gehen.
"Der Sohn des Hauptmanns" ist ein Buch der Sehnsucht und der Erinnerung, eine Art türkischer Bildungsroman, in dem Nedim Gürsel die Geschichte eines gealterten Journalisten erzählt, der nach vielen Jahren im Ausland und einer gescheiterten Ehe in die Heimat zurückkehrt und sich auf die Suche nach seinen Wurzeln begibt. In der Hoffnung, dass sich eines Tages irgendjemand dafür interessieren wird, vertraut er seine Gedanken und Erinnerungen einem Tonbandgerät an - Erinnerungen an seine Kindheit in einer Garnisonsstadt, die ersten sexuellen Erfahrungen und die derben Scherze im Internat in Istanbul, an den frühen Tod der Mutter, die Selbstmord begeht, und die komplizierte Beziehung zu seinem Vater, einem Offizier, der am Militärputsch von 1960 und der Ermordung von Ministerpräsident Adnan Menderes beteiligt war. Was war der Vater für ein Mensch? Was empfand der Erzähler für ihn? Hat er ihn gemocht, trotz allem? Immerhin konnte er ihm die Begnadigung eines Mannes abringen, der der Vater seines besten Freundes und der Ehemann seiner ersten großen Liebe war.
Wie es Nedim Gürsel in diesem Roman gelingt, Vergangenheit und Gegenwart, politische Umbrüche und persönliche Konflikte miteinander zu verweben, einen kritischen Blick auf die aktuelle Situation in der Türkei zu werfen und zugleich universelle Fragen nach der Bedeutung von Heimat und Herkunft zu stellen, ist beeindruckend. Seine Stärke ist aber - so Hans Christoph Buch in seiner Besprechung des Romans für die ZEIT - "nicht der theoretische Durchblick, der Politik und Geschichte auf abstrakte Begriffe reduziert, sondern das sprechende Detail, das schlagartig komplexe Zusammenhänge erhellt." Und nicht zuletzt das macht Gürsels kraftvollen und vielschichtigen Roman, der zugleich eine Liebeserklärung an das Istanbul seiner Jugend ist, zu einer lohnenden Lektüre.
"Nedim Gürsel ist ein großer Schriftsteller", ergänzte Hans Christoph Buch in seiner Besprechung. "Jeder seiner Romane ist eine Versuchsanordnung mit dem Ziel, etwas herauszufinden über sich und sein Land, die Türkei, das er nicht schon vorher gewusst hat. Fast alle seine Bücher brachten ihm Ärger ein und riefen die Gerichte oder die Zensur auf den Plan. Nach dem Erscheinen seines Romans über Mehmed, den Eroberer von Byzanz, warf man ihm 'Verunglimpfung des Nationalhelden' vor, weil er die Vorliebe des Sultans für Griechenknaben nicht verschwieg. Sein Roman über die Ursprünge des Islams und über Mekka unter osmanischer Herrschaft ('Allahs Töchter'), brachte ihn mit einem Bein ins Gefängnis. Und es ist leicht nachzuvollziehen, warum Nedim Gürsels Roman "Der Sohn des Hauptmanns" dem derzeitigen Machthaber der Türkei nicht gefällt.
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Die nächsten Bücher auf unserer Leseliste sind:
Mario
Levi: Istanbul war ein Märchen (21. Januar)
Doğan Akhanli: Sankofa (18. Februar)
Tezer Özlü: Suche nach den Spuren eines Selbstmords (18. März)
Zülfü Livaneli: Der Fischer und der Sohn (15. April)
Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau (20. Mai)
Nazım Hikmet: Die Romantiker (17. Juni)
Hakan Günday: Flucht (16. September)
Perihan Mağden: Zwei Mädchen (21. Oktober)
Aslı Erdoğan: Requiem für eine verlorene Stadt (18. November)
Orhan Pamuk: Schnee (16. Dezember)